Landesweite Gesundheitskarte FÜR ALLE JETZT einführen!

Offener Brief an Staatsministerin Petra Köpping der sächsischen Medinetze und Medibüros und solidarischen Beratungs- und Unterstützungsstrukturen
Gesundheitskarte für alle

Sehr geehrte Frau Staatsministerin,

seit vielen Jahren machen wir auf den dringenden Bedarf eines gleichberechtigten Zugangs zum Gesundheitswesen aufmerksam und fordern die landesweite Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) für alle. Neben der Corona-Pandemie, die diese Notwendigkeit noch schärfer deutlich gemacht hat, ist es jetzt die hohe Auslastung aller Aufnahmeeinrichtungen in Sachsen, die uns dazu veranlasst, diese Forderung erneut laut zu machen. Wir betonen, dass die elektronische Gesundheitskarte auf keinen Fall an einen bestimmten Aufenthaltsstatus oder die Zuweisung in bestimmte Kommunen geknüpft werden darf, sondern unbedingt für alle Menschen mit Anspruch auf Asylbewerberleistungen eingeführt werden muss.

In unserer Praxis beobachten wir, dass nicht nur papierlose Menschen und erwerbslose EU-Bürger*innen, sondern auch Personen im Asylbewerberleistungsbezug häufig medizinisch unterversorgt sind. Die Verfahren der Kostenübernahme durch die Landesdirektion und der kommunalen Behandlungsscheinvergabe sind hochschwellig und an die Beurteilung medizinischer Bedarfe durch nicht-medizinisches Personal geknüpft. Teilweise kommt es zu Fehlentscheidungen, die die Einschränkung oder Ablehnung von Behandlungen zur Folge haben. Aktuell kommen aufgrund der enormen Zahlen an Anfragen viele der entsprechenden Stellen zudem an ihre Belastungsgrenzen, es kommt zu massiven Verzögerungen. Die Folge können schwerere Krankheitsverläufe, kostenintensive Notfallbehandlungen und ein höheres Risiko für Folgeschäden sein. Die sofortige Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für alle in ganz Sachsen würde dieses vermeidbare Leid verringern und gleichzeitig kommunale, sowie Landesstrukturen entlasten!

Kompletter offener Brief "Elektronische Gesundheitskarte für alle" hier zum Download.
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Dazu kommt: In der derzeitigen Praxis wird sich bei der Entscheidung über die Bewilligung medizinischer Behandlungen regelmäßig nur auf §4 AsylbLG berufen. Der darüber hinausgehende Leistungsanspruch nach §6 AsylbLG wird dabei missachtet: Danach sollen auch „sonstige Leistungen“ gewährt werden, wenn sie „zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich“ sind. In verschiedenen Rechtssprechungen wurde bereits festgestellt, dass – angesichts der Bedeutung von Gesundheit als Grundlage aller  Grundrechte – sämtlichen Personen im Asylbewerberleistungsbezug Gesundheitsleistungen entsprechend dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V zu gewähren sind. 1 Davon ist die Lebensrealität der betreffenden Personen in Sachsen durch die derzeitige Praxis weit entfernt.

Durch die elektronische Gesundheitskarte könnten endlich alle Menschen gleichberechtigt Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, wie es gesetzlich festgeschrieben ist. Das würde nicht nur das Leid der betreffenden Personen verringern, sondern auch zum Abbau von Diskriminierung und Stigmatisierung beitragen und Verunsicherungen aufseiten der Behandler*innen verringern. Zudem würde es den Betroffenen endlich die freie Ärzt*innenwahl ermöglichen, auf die auch alle anderen Menschen ein Anrecht haben.

Wir appellieren hiermit erneut an Sie als Gesundheitsministerin, allen in Sachsen derzeit lebenden Menschen den Zugang in das Gesundheitssystem zu ermöglichen. Die Gesundheitskarte jetzt landesweit zügig einzuführen, muss durch Ihr Ministerium erfolgen. Ein „Flickenteppich“ der Versorgungslandschaft ist unbedingt zu vermeiden. Er würde Ausschluss und Ungleichheit, große Verunsicherungen aufseiten der Behandler*innen und Krankenhäuser und erhöhten verwalterischen und finanziellen Aufwand bedeuten. Eine Rahmenvereinbarung mit den Krankenkassen auf Landesebene muss daher obligatorisch für alle Kommunen sein, z. B. orientiert an der Umsetzung in Schleswig-Holstein oder Thüringen. Nur die flächendeckende und obligatorische Einführung der eGK auf Landesebene baut die bestehenden Diskriminierungen im Zugang zum Gesundheitswesen ab.

Mitunterzeichnende

• AG Asylsuchende SOE e. V.
• Antidiskriminierungsbüro Sachsen e. V.
• Bon Courage e. V., Borna
• Bündnis Bunte Westlausitz e. V.
• Clearingstelle und Anonymer Behandlungsschein Leipzig e. V. (CABL)
• Hoyerswerda hilft mit Herz
• Infobus Leipzig
• Infostelle für Asyl und Bildung (Grimma)
• Kontaktstelle Wohnen
• Landesarbeitsgemeinschaft Flüchtlings- und Migrationssozialarbeit Sachsen
• MISSION LIFELINE e. V.
• Mosaik Leipzig e. V.

• Projekt zur Etablierung einer Landesfachstelle FSA/MSA an der Evangelischen Hochschule Dresden
• Refugee Law Clinic Leipzig
• Runder Tisch Migration des Landkreises Leipzig
• Sächsischer Flüchtlingsrat e. V.
• SUPPORT Leipzig – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
• Treibhaus e.V. Döbeln

Eine Orientierung an Modellen der „optionalen eGK-Einführung“ wie etwa in Brandenburg oder Niedersachsen würde die Kommunen zu wenig entlasten und die Menschen dort, wo die Kommune der Vereinbarung schlussendlich nicht beitritt, weiterhin faktisch vom Gesundheitswesen ausschließen.

Als sächsische Medinetze und Medibüros sind wir bundesweit mit Akteur*innen in vielen Bundesländern vernetzt, die bereits Erfahrungen mit der Einführung der „eGK für alle“ machen konnten. Vor diesem Hintergrund weisen wir auch noch einmal auf die voraussichtlichen Kosteneinsparungen für das Land hin2. Im Rahmen unserer Möglichkeiten sichern wir Ihnen bei der Umsetzung in Sachsen gerne Unterstützung und Beratung zu.

Die Aufgabe der Vermittlung (und Finanzierung!) bzw. des „Erstreitens“ von bedarfsgerechter medizinischer Versorgung für die Gruppen, die vom Gesundheitssystem ausgeschlossen sind, kann nicht auf den Schultern von Beratungsstellen und ehrenamtlich arbeitenden Gesundheitsinitiativen lasten. Die Verantwortung dafür liegt bei staatlichen Stellen. Die betreffenden Menschen in Sachsen brauchen die eGK jetzt.

Es besteht weiterhin eine große Versorgungslücke bei Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Sie gelten ebenso als leistungsberechtigt nach dem AsylbLG wie Asylbewerber*innen, können ihr Recht auf medizinische Versorgung aber faktisch nicht in Anspruch nehmen. Es bedarf daher des ausdrücklichen Versprechens, dass die Gesundheitsämter keine persönlichen Daten an Polizei und Ausländerbehörden
weitergeben werden. Bitte weisen Sie die Gesundheitsämter an, von der Übermittlungspflicht nach § 87 Aufenthaltsgesetz abzusehen!

Mit freundlichen Grüßen,
Medibüro Chemnitz e. V.
Medinetz Dresden e. V.

Medinetz Leipzig e. V.

Kontakt
Ansprechperson
Maleen Täger, Medibüro Chemnitz
E-Mail: maleen@medibuero-chemnitz.org

Medibüro Chemnitz
E-Mail: kontakt@medibuero-chemnitz.org

Medinetz Dresden
E-Mail: medinetzdresden@gmx.de

Medinetz Leipzig
E-Mail: kontakt@medinetz-leipzig.de

Quellen
[ 1 ]  siehe z. B. LSG Hessen, Beschluss vom 11.07.2018 – L 4 AY 9/18 B ER; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss
vom 28.08.2019 – L 9 AY 13/19 B ER
[ 2z.B.: Lindner, Katja (2022): Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden in den Bundesländern – Rahmenbedingungen
und Reformbedarfe, MIDEM-Policy Paper 01/22, Dresden